Zuerst einmal, die Vorwürfe rings um Dr Winterhoff haben mich wirklich mitgenommen. Es hat etwas von einem Geschwür, dessen Existenz mir bekannt war, dem wir immer wieder begegnet sind und dessen Bekämpfung ein großer Teil unserer Arbeit ist. Aber gleichzeitig kommt das Gefühl auf, nicht genug getan zu haben.
Wieso haben wir damals, als wir gehört haben, dass Einrichtungen bis zu 300 km fahren, um ihre Kinder in dieser Praxis unterzubringen und mit Medikamenten zu versorgen, aufgehört nachzufragen? Wieso haben wir die Menschen, die dies berichtet haben, nicht stärker bedrängt, sie aufgefordert aktiv zu werden. Wieso haben wir die Verbände, die sich darum kümmern nicht stärker aufgefordert aktiv zu werden.
Vor allem – und das soll keine Ausrede sein – weil es immer nur Hörensagen war, dem wir begegnet sind. Weil Psychologen nun einmal die Experten sind für den Bereich Therapie. Aber sicherlich auch aus Bequemlichkeit.
Die Bücher von Winterhoff hat man zur Kenntnis genommen, sich seinen Teil gedacht und höchstens als abschreckendes Beispiel verwendet. Seine Statements in Talkshows und Interviews haben wir nicht einmal zu Kenntnis genommen, zu abseitig und zu abwegig.
Aber nichts desto trotz, alle die in der stationären Jugendhilfe arbeiten wissen, wieviel noch im Argen ist. Alle wissen, dass das Menschenbild in vielen Einrichtungen nicht nur ein Problem ist, sondern der Kern vieler Probleme. Und eines der Hauptprobleme ist, dass die Einrichtungen, in denen dieses so ist, sich dessen nicht nur nicht bewußt sind, sondern offen für alle sichtbar dieses Menschenbild sogar nach außen tragen.
Es geht nicht darum, den Kindern, denen schlimmes passiert ist – und um diese Kinder geht es in großen Teilen in der Jugendhilfe – zu helfen, mit diesem Leid um zu gehen, es geht oftmals darum, sie unterzubringen, damit Gesellschaft seine Ruhe hat. Notfalls halt auch per Medikament.
Ich bin der festen Überzeugung: Die Traumapädagogik ist einer der möglichen Wege, die Kinder eben nicht ruhig zu stellen, sondern mit ihnen gemeinsam an dem, was sie erlebt haben zu arbeiten.
Und jetzt höre ich schon die Stimmen, die sagen: Die sind aber doch gar nicht alle traumatisiert. Und schon habe ich die Tendenz, in eine Verteidigungshaltung zu gehen. Ja, hilft aber auch den anderen … es geht vor allem um die Haltung …
Ich denke, wir müssen mit dieser Verteidigung aufhören.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, welches in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung auffällt, unerkannt unter Traumafolgestörungen leidet, ist höher als jede andere Erklärung. Dies belegen auch diverse Studien, bspw. die Ulmer Heimkinderstudie. Und eine Einrichtung, die dies nicht sehen will, keine Konzepte dafür entwickelt und stattdessen den Kindern die Schuld an ihren Verhaltensauffälligkeiten gibt, ist nicht mehr tragbar. Es müssen nicht alle Pädagogen in der Traumapädagogik ausgebildet werden. Aber das Wissen über Trauma muß in allen pädagogischen Bereichen vorhanden sein. Beratung muß schon bei Verdacht eingeholt werden, nicht erst wenn eine ärztliche Diagnose vorliegt. Und Traumapädagogik darf nicht zu einem zusätzlichen Qualitätsstandard werden, der vor allem auf Einrichtungsbroschüren gedruckt wird, um einen höhere Abrechnungssatz zu bewirken.
Ja ich glaube sogar es ist an der Zeit, gerade die Einrichtungen, die sich auf traumatisierte Kinder spezialisiert haben in einem Verband zu organisieren. Denn auch in diesen Einrichtungen begegnet man dem Menschenbild Winterhoffs. Auch dort hörte ich bereits Säze, wie:
- Also diesen Psychoedukationsmist machen wir hier nicht.
- Vor Kind xy muß man sich in Acht nehmen, das ist oft ohne Grund aggressiv
- Es geht vor allem darum, diese Kinder/Jugendlichen auszuhalten
- Das können wir hier nicht leisten, dazu ist unser Personalschlüssel zu klein…
Und zuletzt, dieses Menschenbild macht sich in Einrichtungen schleichend breit. Es fängt bereits dann an zu wirken, wenn wir anfangen, Verhaltensweisen zu Charaktereigenschaften zu machen. Immer. Denn die Arbeit mit Kindern mit Traumafolgestörungen ist anstrengend und aufreibend manchmal. Nur wenn wir immer im Blick haben, dass das was wir sehen die Folge des Erlebten ist, dass es einen pädagogischen Weg in eine bessere Zukunft gibt, ist sie teilweise leistbar. Aber diesen pädagogischen Weg gibt es.
Was könnte helfen?
Fangen wir erst einmal mit der gemeinsamen Arbeit von Therapeuten/Psychologen und Einrichtungen an.
Der gemeinsame kindzentrierte Blick hier ist unerläßlich. Immer wieder höre ich aus der jeweilig anderen Prosfession Sätze, wie: Also ganz schlimm, was xy macht. Wir schaffen es ja gerade einmal die Fehler des anderen zu beruhigen.
So macht die Arbeit beider keinen Sinn. Die Erzieher sind es, die 24/7 versuchen, mit dem Klienten zu arbeiten, oft sogar einfach den Tag zu überstehen. Der Therapeut versucht in regelmäßigen Sitzungen die Lage des Klienten langfristig zu stabilisieren. Aussagen, wie die oben genannten sind meist ein Zeichen dafür, dass Schuldige für das gesucht werden, das nicht funktioniert, anstatt gemeinsam nach Lösungen Ausschau zu halten. Nur gemeinsam ist dies möglich. Und wenn eine Partei die Zusammenarbeit verweigert, ist irgendwo eine Notwendigkeit zu Aufklärung oder Vermittlung der Sinnhaftigkeit einer Handlung vorhanden. Gegeneinander geht nie. Dazu bedarf es Wertschätzung und Respekt vor der Arbeit des jeweils anderen, aber auch das Recht auf beiden Seiten, nachzufragen und sich Erklärungen geben zu lassen.
Die Arbeit von pädagogischen Leitern und Beratern
Mir sind mehrfach Menschen in diesem Rahmen begegnet, die Trauma negieren und/oder deren Wissen im Bereich Trauma auf dem Stand ihres Studiums stehen geblieben war. Fehlendes Wissen führt immer auch zu einer Einschränkung im Bereich der Suche nach Lösungsstrategien. Dies führt fast ausnahmslos in die Verortung der Probleme in das Kind. Denn wenn pädagogisch keine Lösung möglich erscheint, bleibt nur diese Strategie zur Aufrechterhaltung meiner Arbeit. Und dies führt unweigerlich in die Hilfslosigkeit der ausführenden Pädagogen und Erzieher. Das Lernen in diesem Bereich darf nie aufhören. Fortbildungen müßten gerade im Bereich der Jugendhilfe ständig und kontinuierlich angeboten werden.
Der Austausch der einzelnen Akteure im Bereich der Jugendhilfe ist mehr als dürftig
Auch der Blick auf den Fall Winterhoff zeigt wieder einmal, dass sich alle Beteiligten auf den jeweils anderen Part verlassen haben. Immer wieder wird mir klar, dass nur das Wissen um die Aufgabe meines Gegenübers mir hilft, seine Haltung und seine Handlungsweise zu verstehen, aber auch bei der Einschätzung, welches Aufgabenspektrum er denn abdeckt. Insbesondere die Kritik der jeweils anderen Profession im oben genannten Zusammenhang macht dies deutlich. Selbst in „gelungener“ Zusammenarbeit erlebe ich regelmäßig Kritik an Beteiligten der Arbeit hinter ihrem Rücken. Ich glaube, dies ist zu großen Teilen ein Problem einer nicht vorhandenen Fehlerkultur und einer strikten hierarchischen Struktur, in der eine gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe nur sehr schwer aufzubauen ist.
Keine Einrichtung darf eine Insel werden
Wie soll einE PädagogIn oder ein Kind erkennen, dass etwas nicht richtig läuft, wenn es keinen Kontakt nach außen hat. Ich dachte früher, der Vormund sei ein Weg, aber Winterhoff hat gezeigt, dass dies nicht ausreichend ist. Es ist dasselbe Problem, wie bereits in traumatisierenden Familien. Erst einmal ist normal, was mich umgibt. Dies in Frage zu stellen bedarf enormer Kraftanstrengung, einer Kraftanstrengung, die die Akteure eventuell nicht aufbringen können. Nur der Austausch mit anderen Betroffenen ergibt eine Erweiterung der eigenen Wahrnehmung. Und nur diese neue Wahrnehmung kann wirkliche Veränderung bewirken.
Es bedarf unabhängiger Beschwerdestrukturen
Seit Jahrzehnten reden wir von Teilhabe und Beteiligung, nach wie vor habe ich aber nicht das Gefühl, dass Menschen in Jugendhilfeeinrichtungen irgendeine Stelle haben, an die sie sich wenden können, wenn etwas ,ihrem Empfinden nach, nicht richtig läuft. Beschwerdestellen innerhalb der Strukturen sind nicht ausreichend. Und außerhalb der Strukturen nicht vorhanden. Am eigenen Leibe mußten wir erfahren, was es heißt, gegen ein Jugendamt Beschwerde einzulegen. Wenn das Jugendamt die Stelle ist, in der die Beschwerde bearbeitet wird und alle anderen Stellen sich darauf zurückziehen, dass sie ja nicht weisungsbefugt sind, geht die Kraft schnell dahin.
Es bedarf einer Kindzentrierten Sicht – aller Beteiligter
Die traumapädagogische Sicht auf Kinder ist für mich vor allem gekennzeichnet durch die Einbeziehung des biographischen Hintergrundes des Kindes. Die beobachteten Verhaltensweisen eines Kindes werden nie (oder sollten nie) als eine Charaktereigenschaft sondern immer als die Folge dieses biographischen Hintergrundes gesehen werden. Der Ursprung dieses Verhaltens liegt in den vergangenen Lebensbedingungen des Kindes. Die gemeinsame Arbeit beginnt immer mit der Suche des Punktes, an dem in der aktuellen Situation eine andere Lösung möglich gewesen wäre. Und danach folgt grundsätzlich, die Suche nach intrinsischen und extrinsischen Unterstützungen, um nicht gewollte Folgen zu vermeiden.
Diese Sichtweise setzt keine ptbs voraus. Aber sie setzt voraus, dass erlebte oder beobachtete psychische oder physische Gewalt immer eine Auswirkung auf die Verhaltensweisen von Kindern haben. Auch Vernachlässigung von Kindern gehört für uns in den Bereich von Gewalt. Es bedarf keiner ptbs Diagnose für diese Sichtweise. Fremduntergebrachte Kinder haben immer einen biografischen Hintergrund und in weiten Teilen ist dieser von potentiell traumatisierenden Erlebnissen durchzogen. Selbst wenn ein Kind sich scheinbar resilient zeigt. Nur weil es nicht ausreichende Symptome einer ptbs zeigt oder diese nicht diagnostiziert sind. Trauma sollte keine 0-1 Diagnose sein, denn die Folgen von traumatischen Ereignissen sind es ebenso wenig.