Wie wir eine positive Sprache entwickeln können

Traumatisierte Kinder legen viele Verhaltensweisen an den Tag, die allgemein als verhaltensauffällig beschrieben werden. Nicht selten werden so nach und nach mit der Zeit diese Verhaltensauffälligkeiten zu den grundlegenden Charakterisierungsmerkmalen  der Kinder. Die allgemeine Frage, wie geht es Justin, wird beantwortet mit einer Aufzählung der Verfehlungen von Justin, einer allgemeinen Charakterisierung als aggressiv, wütend, verletzend.

Gleichzeitig ist es so, dass ein großer Teil der eben genannten Verhaltensweisen genau die Verhaltensweisen sind, die das Kind dazu gebracht hat, die schwierige Vergangenheit zu überleben. Die Aggression, das Träumen, die Wut sind nicht Teil des Charakters, sondern entstanden als Überlebensstrategie, als Rettung aus lebensbedrohlichen Situationen. Die entstandene Persönlichkeit auf diese Verhaltensweisen zu beschränken bedeutet einerseits, sie immer und immer wieder mit den in der aktuellen Situation negativen Verhaltensweisen zu konfrontieren, andererseits verhindert sie den gemeinsamen Blick in die Zukunft.

Daher ist nichts wichtiger in der Arbeit mit traumatisierten Kindern, als eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Eine Sprache, frei von Beschämung, Verurteilung und Bedrohung. Die Kinder erleben ihre Vergangenheit immer wieder in Ereignissen, Emotionen und Zwangshandlungen, die mit der Vergangenheit verknüpft sind. Über diese Erfahrungen sprechen zu können, ohne Beschämung, ohne Urteil ist heilsam. Aber so lange Pädagogen ihren Blick auf die Handlungen der Kinder richten und nicht auf ihren Ursprung ist eine solche gemeinsame Sprache nicht zu finden.

Ein Beispiel aus unserer Beratung:

In fast allen Pflegekinder-Verhältnissen ist das Thema Diebstahl eines der am häufigsten auftauchenden. Kinder, die des Nachts ihre Vorräte auffüllen, sich Essen bunkern, anderen Kindern die notwendigen Spielsachen, Süßigkeiten oder andere Dinge wegnehmen. Wie kann eine solche Handlung besprochen werden, ohne dass es zu Beschämungen kommt?

Und doch ist es möglich – und wenn man sich mit den meisten Diebstählen befasst, wird man feststellen, dass die Ursachen für dieses Verhalten in den meisten Fällen nicht die häufig angenommene nicht oder nur unzureichend vorhandene moralische Reife der Kinder ist, sondern in frühkindlicher Unterversorgung, der Notwendigkeit des Stehlens in weiten Teilen der Kindheit oder in der Unfähigkeit die eigenen Bedürfnisse zu benennen, liegt. Die Kinder sind sich häufig ihrer unmoralischen Handlung bewußt, der Zwang sich aber doch um die eigenen Bedürfnisse kümmern zu müssen obsiegt.

Nun, wie ist es aber trotzdem pädagogisch möglich dieses Verhalten zu besprechen, ohne Beschämung? Der Schlüssel liegt in der Externalisierung des Verhaltens. Eine Technik, die in der Traumapädagogik schon lange Verwendung findet. 

Die Externalisierung ist eine therapeutische Technik, in der Verhaltensweisen quasi „vor die Tür gestellt“ werden. Um auf das obergenannte Beispiel der nächtlichen Diebstähle von Lebensmittel zurückzugreifen, welche Eigenschaften verbinden die Kinder mit diesen Handlungsweisen:

– Heimlich durchstreifen sie die Küche

– Lautlosigkeit ist Trumpf

– Sie werden meist nicht erwischt, oft erst im Nachhinein durch fehlende Lebensmittel

– Füllt eine empfundene Versorgungslücke auf

– Eigene Ängste werden in den Hintergrund gestellt (bspw. Die Angst vor Dunkelheit)

– Hohe Risikobereitschaft, um die Aufgabe zu erfüllen

– Hohe Kreativität, in der Überwindung der Hindernisse

Was liegt bei diesen Beschreibungen näher als ein nächtlicher Superdieb. Eine Figur, die sich trefflich eignet, mit Bilder, Geschichten und kleinen Improtheaterstücken zum Leben erweckt zu werden. Dieser Dieb kann viele Abenteuer erleben die man sich abends gemeinsam erzählen kann. Und natürlich erhält er einen Namen und möglichst ein Gesicht.

Schon nach kurzer Zeit haben wir einen kleinen Superhelden erschaffen, der als Repräsentant der nächtlichen Raubzüge zur Verfügung steht. Nennen wir ihn hier Balthasar. 

Was haben wir durch die Erschaffung dieser Figur gewonnen? Sie ist durch und durch positiv besetzt. Der Held besitzt Eigenschaften, die dem Kind inne wohnen. Er hat eine starken Identifikationscharakter für das Kind. Und vor allem, haben wir einen nicht beschämenden, nicht verurteilenden Namen für die nächtlichen Ausflüge. Es ist möglich, über diese nächtlichen Ausflüge zu sprechen, ohne den moralischen Zeigefinger. Und oft haben wir erlebt, dass es mit der Erschaffung dieser Figur den Kindern möglich wurde, frei von den nächtlichen Ausflügen zu berichten. „Heute war Balthasar wieder da!“ vereinfacht die Kommunikation enorm.

Ebenso ist es möglich, über diese Figur, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen über ihre  Handlungsweise, ihre Entstehung und die Not, die Balthasar erschaffen lies. Die erschaffene Figur repräsentiert unserer Erfahrung nach nicht nur im hier und jetzt und der Zukunft die Handlungsweise, die es zu besprechen gilt, sondern mit dem Auftauchen des Heldens, ist auch ein großer Teil der kindlichen Erinnerung an die nächtlichen Ausflüge in der neu erschaffenen Heldenfigur verortete. 

Über diese Figur lassen sich nun folgende Fragestellungen mit dem Kind bearbeiten:

– Wann muß Balthasar tätig werden?

– Was brauchst Du (oder Balthasar), damit Balthasar Dir nicht helfen muß?

– Welche Situation hat Balthasar erschaffen?

– Wie hat Balthasar Dich beschützt?

– War Balthasar gestern, letzte Woche, letzten Monat aktiv?

– Sollten Dinge im Haushalt  fehlen, verändert sich die Nachfragesituation völlig. Auf die Feststellung: “Oh, Balthasar mußte aber heute Nacht mal wieder auf Tour gehen!“ erhält man unserer Erfahrung nach eine positive Antwort, wenn es stimmt.

Die Figur, die hier in der Zusammenarbeit mit den Kindern entsteht liegt völlig in der Phantasie des Kindes verortet. Die nächtlichen Streifzüge können genauso gut von einem kleinen Troll, einem Drachen, einer Katze oder einer Fee durchgeführt werden. Wichtig hierbei ist letztlich, dass die Figur positiv besetzt, ohne moralische Bewertung und ohne Abwertung des Verhaltens.

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