Pädagogik des Guten Grundes
Die Pädagogik des guten Grundes
Dazu ein Beispiel aus unserem pädagogischen Alltag. Eines der Kinder wollte sich nicht die Zähne putzen. Aufforderungen, Beharrlichkeit und Streit brachten keine Besserung. Es dauerte lange, diese notwendige Tätigkeit in den Alltag des Kindes zu integrieren. Geholfen hat die gemeinsame Suche nach der Ursache dieser Weigerung und sie ist so erschütternd, wie real. Die Ursache war ein sexueller oraler Missbrauch, dessen Trigger durch das Zähneputzen ausgelöst wurde. Die gemeinsame Suche und das Verständnis für die Situation war aber auch gleichzeitig der einzig mögliche Weg, das Problem aus der Welt zu schaffen. Wir konnten Alternativen suchen, gemeinsam Wege planen, gemeinsam üben und so wurde aus einem großen ein kleineres und Stück für Stück ein sehr kleines Problem. Heute putzt sich das Kind die Zähne.
Es sind aber nicht nur so drastische Beispiele, wie das geschilderte, die uns zeigen, dass der gute Grund unser wichtigstes pädagogisches Mittel sein sollte. Kinder haben immer einen Grund für ihr Verhalten. Sehr oft kommunizieren sie über ihr Verhalten mit uns und wir sind es, die in der Lage sein müssen, ihre Signale zu verstehen. Wir, die wir beide Sprachen beherrschen, müssen uns auf die Suche begeben, was die Ursache für Wut, Aggression oder Traurigkeit ist, um sie gemeinsam mit den Kindern zu besiegen.
Heftige Emotionen sind immer ein Signal an uns, dass irgendetwas nicht stimmt. Oft wissen die Kinder zu diesem Zeitpunkt selbst nicht einmal, was die Ursache sein könnte. Aber sie können gemeinsam mit uns Erwachsenen auf die Suche nach diesen Ursachen gehen.
Ein weit verbreitetes Streitthema scheint das nicht aufräumen wollen des Kindes und hierdurch ausgelöste Wutanfälle zu sein. Allein durch den Perspektivwechsel mit Hilfe des guten Grundes, ist es möglich, mit dem Kind auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Ich kann verstehen, dass Du nicht aufräumen willst, aber wie können wir gemeinsam einen Weg gestalten, dass diese „Pflicht“
erledigt wird.“ Ist eine viel angenehmere und erfolgsversprechendere Ansprache, als Machtansprüche, Kampf gegen die Wut und angedrohte Konsequenzen. Und vor allem hilft diese Ansprache, die negative Emotion zu unterbrechen, ohne das Kind oder seine Reaktion abzuwerten.
Hiebei geht es nicht darum, die gestellte Regel in Frage zu stellen. Das Zimmer muß aufgeräumt werden. Aber der Weg hin zum Ziel ist ein Prozess, in dem bspw. die Wut des Kindes lediglich einen geäusserten Widerstand darstellt. Welchen Ursprung hat dieser Widerstand? Oft handelt es sich um recht banale Gründe, wie empfundene Zeit, das Ergebnis des Spielens erhalten wollen oder in der Spielsituation bleiben zu wollen, aber die Gründe können auch viel tiefergehend sein. Wenn das Kind meint, immer wenn es aufgeräumt hat, gibt es (oder gab es früher) Streit. Wenn ich aufgeräumt habe, erwartet mich etwas Schlimmes. Der eigene Zweifel an der Fertigkeit. Die Annahme, den Anforderungen niemals gerecht zu werden. Mein äußeres Chaos stellt meinen inneren Zustand dar. Meine Wahrnehmungen von Zeit, Ordnung und meiner Umwelt ist nicht Deine, für mich ist es ordentlich. Emotionen, wie Traurigkeit oder Enttäuschung, sind der Wut sehr nahe. Die geäußerte Wut ist also vielleicht eigentlich nur Trauer. Spiegele ich dem Kind beispielsweise seine Emotion der Traurigkeit, lernt es diese zu unterscheiden und zu benennen.
Auch hier ein Beispiel aus unserem pädagogischen Alltag. Eines unserer Kinder ist gut in der Lage und mag es, das Zimmer aufzuräumen. Es mag in einem Zimmer sein, das ordentlich, sauber und sortiert ist. Aber diese Aufgabe wird nie vollständig beendet. Ein gefüllter Müllbeutel steht in einer Ecke oder der Schreibtisch befindet sich noch im Chaos. Und doch, erledigt das Kind diese Aufgabe gewissenhaft und freiwillig. Haben wir das Recht, die vollständige Vollendung zu fordern? Oder hat das Kind das Recht das Signal zu senden: Aber ganz fertig bin ich noch nicht.
Hierfür gibt es Gründe, gute Gründe. Wir werden vielleicht irgendwann diesen Grund gemeinsam finden. Bis dahin wenden wir unseren Blick auf das, was das Kind selbstständig und gut geschafft hat. Denn tun wir dies nicht, befinden wir uns in einem ständigen Konflikt mit dem Kind und werten die erreichten Ziele und damit letztendlich den Selbstwert des Kindes ab.
Akzeptieren wir allerdings, dass der Weg noch nicht vollendet ist, stärken wir die Selbstwirksamkeit des Kindes, machen den Weg zu seinem Weg.
Jeder kennt im pädagogischen Alltag Aussagen, wie „Der ist ja immer so böse, aggressiv, wütend!“, „Es ist egal, was wir machen, er/sie wehrt sich!“ aber auch „Ja, ein ganz ruhige, trauriges Mädchen!“. Es sind diese Aussagen, die uns Pädagogen aktivieren sollten. Was will das Kind uns mitteilen? Warum ist es wütend oder traurig? Wie können wir ihm helfen, eine andere Erfahrung zu machen.
Diese Wut und Traurigkeit zu akzeptieren heißt, aus der geäußerten Emotion, der gesendeten Botschaft eine Charaktereigenschaft zu machen. Das Kind in dieser Emotion einzuzementieren.
Das Herausfinden und ernst nehmen der Gründe für einen emotional geäusserten Widerstand, nimmt das Kind als Persönlichkeit wahr, bietet Beziehung an und ermöglicht einen Veränderungs-, also einen Lernprozess. Und genau darum geht es in der Pädagogik und Erziehung, auch wenn der Pädagoge damit zu einem Wegbereiter und Wegbegleiter wird und nicht zum Regelaufsteller und Regelüberwacher.