Die sind nicht krank, diese Kinder
Wir denken immer, wir würden Erfahrungen machen – in Wirklichkeit machen die Erfahrungen uns.
In der aktuellen Diskussion zum pädagogischen Umgang mit traumatisierten Kindern fällt immer wieder die Aussage: „Die Kinder sind nicht krank!“ Betrachtet man aber Typ II traumatisierte Kinder, um die es in folgendem Text vor allen Dingen geht, und nimmt den ICD 10 als Grundlage der Entscheidung, dafür, ob das Verhalten der Kinder psychisch auffällig ist, wird in vielen Fällen eine weitreichende Schädigung zu erkennen sein. Die Diagnose Bindungsstörung (mit oder ohne Enthemmung) im Kindesalter oder eine sozial emotionale Störung ist ein vielen Fällen bereits nach wenigen Sitzungen diagnostiziert. Ein Widerspruch!
Grundlegend geht es hier um eine fehlgeleitete Argumentation einer der Kernaussagen der Traumapädagogik.
Nicht die Kinder sind es, die krank sind,
sondern die Umwelt, in der sie aufwuchsen ist es.
Diese Aussage der Traumapädagogik ist wichtig und auf allen Ebenen zu verteidigen. Zentriert man den Blick auf die Kinder und ihre Biografie ist dieser Satz sehr wahr und hilft, die Verhaltensweisen der Kinder zu verstehen, zu würdigen und ohne Abwertung zu handeln. In die gesellschaftliche Umgebung des Kindes gelenkt, wird die Aussage grundlegend falsch.
Das Verhalten des Kindes in seiner ursprünglichen Umgebung ist normal und hat sein Überleben gesichert.
DIE SIND NICHT KRANK, DIESE KINDER !
In anderen sozialen Kontexten sind die gleichen erlernten Verhaltensweisen a-typisch, behindern das Kind in seiner Entwicklung und sorgen für weitere schädigende und beschämende Erfahrungen. Mit anderen Worten: Ein traumarisiertes Kind ohne seine Biografie zu betrachten ist, als würde man einem Menschen ohne Berücksichtigung seines beruflichen Weges in einen neuen Job vermitteln. Sicherlich ist es für einen wissenschaftlich ausgebildeten Menschen sinnvoll, einen Sachverhalt wissenschaftlich zu bearbeiten und Veröffentlichung anzustreben, als Automechaniker hilft diese Vorgehensweise nicht weiter.
Zu sagen, traumatisierte Kinder sind nicht krank, wertet den alltäglichen Kampf um eine Normalisierung der erlernten Verhaltensmuster ab. Nicht nur im Hinblick auf traumapädagogisches Wirken, sondern auch mit Blick auf die Kinder, welche tagtäglich mit ihren Monstern der Vergangenheit kämpfen. Die Bemühungen Ängste zu überwinden, impulsives Verhalten zu neutralisieren, sich auf fremde Erwachsene und die Versorgung durch diese verlassen zu können oder sich nicht selbst zu verletzen mit dem Satz abzutun, das muß man nur eine Weile Aushalten, das vergeht von alleine, ist nicht nur am Ziel vorbei, sondern würdigt nicht einmal im Ansatz die Leistung aller am Prozess beteiligten, insbesondere der Kinder.
Im Falle eines Beinbruches, welcher nicht korrekt erkannt und behandelt wurde, können die Spätfolgen zu Humpeln, schiefer Hüfte, ständigen Schmerzen oder gesellschaftlichen Einschränkungen führen. Die einzige wirksame Behandlungsmethode, um Spätfolgen zu verhindern, wäre eine gezielte Diagnostik, um die Behandlung einzuleiten. Denn wenn nicht genau hingeschaut wird, können aus einem simplen Beinbruch dauerhafte Schädigungen und sogar psychische Erkrankungen entstehen. Gerade traumatisierten Kindern eine Diagnostik, therapeutische Behandlung und eine traumasensible pädagogische Begleitung vor zu enthalten, da sie „nicht krank“ sind, entbehrt nicht nur jeglicher Logik, sondern verschlimmert die Situation der Kinder. Indem Ihre Probleme bagatellisiert werden. Es sind die Folgeschäden der Traumarisierung, mit denen Kinder oder dann Erwachsene ihr Leben lang zu kämpfen haben. Je eher die Betroffenen diagnostiziert sind, desto eher können sie Unterstützung erfahren, um korrigierende Erfahrungen machen zu können. Hierzu bedarf es allerdings traumasensibler Fachkräfte, Therapeuten mit geeigneter Qualifikation und die Anerkennung dessen, dass ein erschüttertes Seelenleben auch eine Erkrankung darstellt.
DIE SIND NICHT KRANK, DIESE KINDER !
Vielleicht sollte man auch im psychischen Bereich den Krankheitsbegriff genau betrachten. Die Krankheit ist es, die den gesunden Körper befällt. Die Krankheit zu sehen heißt also nicht, den Kindern ihre gesunden Reaktionen ab zu sprechen, sondern ihnen die Verantwortung für die Differenzen in ihrem Verhalten zu nehmen. Dass heißt, bei Verneinung der Krankheit wird – trotz anders lautenden Bekundungen – den Kindern die Verantwortung für ihr Verhalten vollständig übergeben. Da sie nicht krank sind und sich nun – im Fall einer Fremdunterbringung – in einer gesunden Umgebung befinden, ist weitere Hilfe, weitere Unterstützung nicht nötig. Und jeder, der mit traumatisierten Kindern arbeitet weiß, dass dies – gelinde gesagt -nicht nur falsch ist, sondern auch in der Zukunft der Kinder falsch bleibt.
Kinder, die in traumatisierenden Verhältnissen aufwachsen sind in ihrer Entwicklung leider nicht nur beeinträchtigt, sondern ein Teil ihrer Entwicklung ist aus den Fugen geraten. Es geht also nicht nur darum, die aktuelle Situation zu betrachten, sondern darum, alte und falsche Entwicklungsschritte soweit möglich durch neue zu unterstützen. Im Grunde müßte man sogar vollkommen anders formulieren:
Ein Trauma ist eine Erkrankung wie Rheuma. Wir können alles tun, um sie soweit möglich einzudämmen. Wir ergänzen die Persönlichkeit der traumatisierten Kinder um neue, zusätzliche Handlungsmuster und -strategien, so dass die Traumafolgestörungen sich immer seltener bahnbrechen müssen. Ein Ausradieren, Korrigieren oder Heilen der gekränkten und geschädigten Persönlichkeit findet nicht statt. Hüther nutzt das schöne Bild einer Strasse, als Symbol der neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Die „Schnellstrasse“ im Gehirn der Betroffenen wird nicht eliminiert, sondern wird lediglich nicht mehr sooft befahren, da es eine Vielzahl „besserer“, inzwischen gut ausgebauter neuer Strassen gibt. Diese Umgehungsstrassen über, unter und neben der Autobahn und die Stoppschilder auf der alten Schnellstrasse verhindern aber nicht, dass es zu einer erneuten Nutzung der weiterhin gut ausgebauten alten Strasse kommen kann. Mit anderen Worten, die Betroffenen sind nicht nur krank, sondern leiden an einer chronischen Erkrankung, die sich immer wieder in den Vordergrund schieben kann. Und auch hier zeigt sich die Falschheit der Aussage deutlich. Wir alle müssen die Krankheit akzeptieren und den Betroffenen alle Hilfsmittel zur Verfügung stellen, um mit Ihrer Erkrankung ein zu dämmen.
Wie kommen aber traumasensible Menschen zu einer solchen Aussage?
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Eine mögliche Erklärung wäre das Problem einer sekundären Traumarisierung oder einer eigenen Retraumatisierung in helfenden Berufen. Hierbei werden Menschen, die sich mit dem Trauma anderer befassen „angesteckt“ durch die Symptome der Betroffenen. Ein funktionaler traumarisierter Mensch muss den Einfluss des Traumas auf das eigene Leben ausblenden, um handlungsfähig zu bleiben. Wenn dieses eigene Handlungsmuster aber auf andere Menschen übertragen wird, führt es zu dem Fehlschluß, traumatisierte Menschen sind nicht krank. Das Ausblenden der eigenen Erkrankung führt zur Abwertung des Leidens der Betroffenen.
Möglicherweise liegt es auch an falsch verstandener Systhemik. Auch wenn zur Analyse der familiären und gesellschaftlichen Situation des Kindes der Anteil der Kinder an der Situation betrachtet werden muß, kann den Kindern keinerlei Verantwortung für die Situation gegeben werden. Jegliche Verhaltensweisen eines Kindes liegen begründet im Verhalten der Eltern oder der gesellschaftlichen Umgebung, so dass der Anteil eines Kindes immer auch in diesem Kontext gesehen werden muß.
Zum anderen sind mit der Aussage natürlich sekundär auch finanzielle Folgen für die Betroffenen zu erwarten. Wenn die Anerkennung der Erkrankung verweigert wird, wird gleichzeitig die Hilfeleistung verweigert. Es reicht also vollständig aus, abzuwarten und ein wenig Psychoedukation anzubieten und alles wird gut. Vor allem für die Haushalte der Kommunen aktuell. Ob bei einem unbearbeiteten Trauma spätere Folgekosten wesentlich höher sind, spielt im Jugendhilfesystem keine Rolle. Und das, obwohl in fast allen Jugendämter Familien mit einer generationsübergreifenden Hilfekarriere bekannt sind. Traumata, die von Generation zu Generation weitervererbt werden, ohne dass der Teufelskreis unterbrochen wird.
Vielleicht liegt es aber auch an einem ganz einfachen Zusammenhang. Sehr oft fällt diese Aussage von Menschen, die sich auf einem sehr theoretischen Niveau mit Trauma befassen. Trauma mit all seinen Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen in seiner Gänze zu erfassen fällt vielen Menschen schwer. Es aus Sicht der Betroffenen oder aus Sicht der pädagogisch tätigen Menschen zu vermitteln ist mindestens ebenso schwer. Die volle Tragweite einer Traumarisierung mag auf einem Blatt Papier scheinbar klar sein, die
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emotionalen und psychischen Folgen dieser auf dem Papier klaren Diagnosen im Alltag ist allerdings nur durch wirkliches Erleben möglich.
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